9. Juni 2022, 11:12
Kinderkantorei Nördlingen

Aus Distelkindern werden Lilienkinder

Die Uraufführung von „Distelkinder“ (einem Musical von Henrike Thies-Gebauer) feiern die Mädchen und Jungen der Kinderkantorei mit ausgewähltem Premierenpublikum am Sonntag, 19. Juni 22, um 15 Uhr im Gemeindezentrum St. Georg. Bild: Kinderkantorei Nördlingen
Die Kinderkantorei Nördlingen hat einen Musicalfilm über Johann Hinrich Wichern gedreht. „Die Distelkinder“ ist für alle eine große Herausforderung – und bringt gleichzeitig jede Menge Spaß.

Flink rennen sie durch die Altstadtgassen, klauen Bürgern den Hähnchenbraten vom Teller und reißen Kindern die Eistüte aus der Hand. Lässig rappen sie mit Sonnenbrille und Lederjacke: „Wir sind die coolsten Jungs in dieser Stadt, jeder hat Respekt, ich schwör dir das.“ Es sind Carl und seine Bande. Die Schrecken der Straße. Diese Kinder sind wie Disteln: keiner mag sie anfassen. Genauso ergeht es Marie und Lotte. Die beiden Mädchen schleppen schwere Eimer durch die Stadt, um das Wasser für ein paar Schilling zu verkaufen. Marie ist Halbwaise mit vielen Geschwistern, Lotte kennt ihre Eltern gar nicht. Beide würden so gerne zur Schule gehen und träumen von einem besseren Leben.

 Die Kinder sind Figuren aus dem Musicalfilm „Die Distelkinder“, der am Sonntag, 19. Juni, im Gemeindehaus St. Georg uraufgeführt wird. Die Kinderkantorei Nördlingen erzählt darin die Geschichte des Theologen Johann Hinrich Wichern, der in Hamburg um 1830 ein Haus für arme Kinder gründete. Kinder wie Carl, Marie und Lotte wurden in der Sonntagsschule und später im Rettungshaus aufgenommen und durften in familienähnlichen Verhältnissen aufwachsen. Aus den „Distelkindern“ sollten „Lilienkinder“ werden. Bis heute unterstützt die christliche Stiftung „Das Rauhe Haus“ in Hamburg benachteiligte Kinder und Jugendliche.

 

Rasante Schnitte und mitreißende Lieder

„Eigentlich wollten wir das Musical bereits 2020 auf die Bühne bringen“, erzählt Kirchenmusikdirektor Udo Knauer, in dessen Kinderkantorei rund 45 Mädchen und Jungen singen. Corona machte allen einen Strich durch die Rechnung. „Lange ging gar nichts“, meint Knauer. „Wir konnten uns nicht treffen, die Proben mussten ausfallen.“ Später nutzte der Chorleiter jede Gelegenheit, um die jungen Sängerinnen und Sänger bei der Stange zu halten. Mit viel Abstand wurde schließlich in der Sankt Georgskirche geprobt. „Jedes Kind hat eine große Decke mitgebracht und sich drauf gestellt. Anders funktioniert das bei den Kleinen mit dem Abstand halten ja nicht“, lacht der 63-Jährige.

Als auch 2021 abzusehen war, dass es kein Live-Musical geben konnte, wurden die Pläne kurzerhand geändert. „Ich beschloss, das Musical in den Sommerferien zu verfilmen“, sagt Knauer, der sich erst seit Beginn der Pandemie mit Film- und Schneidetechnik auseinandersetzt. „Das Projekt hat unglaublich viel Spaß gemacht. Vor allem, weil die Arbeit an der Kamera und der Filmschnitt ganz neue und andere Herausforderungen sind, als bei einem Live-Musical Regie zu führen. Aber ich bin froh, dass ich vorher nicht wusste, wie viel Arbeit auf mich wartete.“ Nun ist Udo Knauer ein Perfektionist, der Szenen auch Wochen später noch einmal nachdreht, weil Bild oder Ton nicht stimmig sind. Unterstützt wurde er von einem bewährten Team aus ehrenamtlichen Musikern und Tontechnikern. Die Instrumente wurden einzeln eingespielt und erst am Schluss zusammengemischt. Auch die Lieder wurden extra aufgenommen. Herausgekommen ist ein im höchsten Maße professioneller Musicalfilm mit rasanten Einstellungen und Schnitten, mitreißenden Liedern und begabten Darstellern, deren Freude am Schauspiel und Singen begeistert.

Wenn Autos die Dreharbeiten stören

Hannah Braun spielt den jungen Johann Wichern, der im Hamburger Elendsquartier St. Georg „Das Rauhe Haus“ für verwahrloste Kinder aufbaut. Hannah beeindruckt vor allem, wie Wichern damals gegen Widerstände an seinem Projekt festgehalten hat. „Selbst als Leute gesagt haben, dass sie dafür kein Geld geben werden oder dass doch eigentlich die Stadt zuständig sei, hat Wichern einfach nicht aufgegeben.“ Das Mädchen findet es toll, dass das Musical trotz Corona zustande kam und sie ist schon gespannt auf die Filmpremiere. Auch, wenn es etwas vollkommen anderes ist, als live auf der Bühne zu stehen. „Ein Film, der für alle Ewigkeit im Internet steht, muss einfach perfekter sein als eine Aufführung, wo man schon mal schnell den Text einflüstern kann“, sagt die 13-Jährige. Zudem musste beim Dreh zum Beispiel unterbrochen werden, wenn ein Flugzeug- oder Autogeräusch im Ton zu hören war. „Das gab es ja damals nicht.“

Auch Udo Knauer antwortet auf die Frage, was die Dreharbeiten besonders knifflig gestaltete, verschmitzt: „In Nördlingen Drehorte zu finden, wo kein Auto im Hintergrund zu sehen ist. Schließlich konnten wir nicht wie im Hollywood-Film ganze Straßenzüge absperren.“ Gedreht wurde nicht nur in Nördlingen, sondern auch im Reimlinger Schlossgarten, der Balgheimer Kirche oder dem Schulmuseum in Enkingen. (pm)